Der Zürcher Friedhof ist riesig, und als ich zum ersten Mal da war, musste ich nachfragen, wo die Aufbahrungen sind. «In der Kapelle», wies man mich an «Und bitte läuten Sie vorher!» Da stand ich dann vor dieser Kapelle. Weit und breit keine Klingel, bis ich detektivisch den gewöhnlichen Pfosten als Klingel entlarvte. Ein adretter junger Mann erschien im smarten Business- Look. Vom Scheitel über die Krawatte, den Anzug bis zu den Lederschuhimitaten schien alles aus einem Guss beziehungsweise Teil zu sein. Wie ein Astronautenanzug. Statt Helm, gasdichtem Raumanzug und Moonboots, hier Scheiteltoupet und Seidensocken. Als wäre er am Morgen in diesen Ganzkörperanzug mit Anschrift «Geschäftstüchtigkeit» gestiegen. I
ch fragte verwirrt, ob ich da richtig sei, denn entweder war er oder ich hier am falschen Ort. Seinen Look bekam ich einfach nicht in Zusammenhang mit Friedhof. Seine durchdringende Stimme auch nicht. Er forderte mich mit Migros-Durchsage- Stimme auf, vor der Tür NR 205 Platz zu nehmen und zu warten, er bereite alles vor.
Lächelte mich gewinnend etwa vier Sekunden angestrengt an, und während ich so in dieser Halle wartete, fragte ich mich schon, was es da vorzubereiten gibt. Ich war die einzige Besucherin. Die Holzbänke vor den verschiedenen Türen, ähnlich wie bei der Steuerbehörde, waren alle leer. Und so wartete ich geduldig.
Das mysteriöse «Vorbereiten» dauerte dann zehn Minuten, und er öffnete mir die Tür zu einem Raum ohne Fenster, wenn man die Tür schloss, hob sie sich kaum von der restlichen Wand ab, und meine verstorbene Freundin lag aufgebahrt im leicht sparsamen Licht da. Ich liess mir Zeit. Es fühlte sich an, als hielt ich alles an. Als würde die Welt für mich aufhören zu atmen. Stille. Das Unbegreifliche, begreiflich machend und das Unsichtbare sichtbar, redete ich lange mit ihr. «Bist du hier?», fragte ich oder «wie ist es da?». Ja, wir redeten schon immer gerne miteinander, oftmals vergingen Stunden des Austausches am Telefon, wir scherzten und lachten, wir diskutierten und erzählten. Und so vergingen auch jetzt Minuten um Minuten. Oder Stunden?
Schwer fiel mir der Abschied, wie damals das Aufhängen des Telefons. Nach den Abschiedsworten kam uns garantiert noch etwas in den Sinn, das wir einander unbedingt erzählen mussten. Etwas ganz Wichtiges, nämlich. Was lachten wir! Irgendwann kam mir der Anzugsmann in den Sinn. Komisch, dass er nicht einmal die Türe aufmacht, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Es kamen wirklich keinerlei Nachfragen von ihm. Er liess mich so lange in Ruhe, dass ich ganz unruhig wurde. Ich fragte mich, wie der Empfangsmann wohl weiss, dass ich nicht zusammengebrochen war! Oder ohnmächtig da lag oder im Gegenteil panisch nach Luft schnappte! Oder verzweifelt und verwirrt den Ausgang suchte!
Ich beschloss, meinen Abschied nicht mehr weiter hinauszuzögern, und wurde wie durch ein Wunder bereits vom Scheitelmann empfangen! Er verabschiedete sich von mir mit einem kräftigen Händedruck, einem gut gecoachtem Aufrechterhalten des Blickkontaktes und den Worten: «Ich hoffe, es isch recht gsy!» Diese Worte hallten in mir wie ein falsch gestimmter Gong, zusammen mit der Erinnerung an kleine glänzende Linsenaugen einer Kamera oben an der Zimmerdecke des Kapellenzimmers. «Hoffe, es isch recht gsy!», lallte mein Hirn in Endlosschleife.
Die Wirtschaft macht also vor nichts mehr halt. Auch ein Friedhof wird optimiert, upgegradet und gecoacht, gepimpt und redesignt, denn die Verkaufszahlen müssen stimmen. Überall herrscht ein veritabler Wachstumszwang. Eine Hysterie. Nicht mal bei der letzten Ruhe hat man Ruhe.