Man sieht ja nur immer das, worauf man sich fokussiert. Alles andere bleibt im Filter hängen. Denke ich und schaue lange auf den Kerzenbecher, in dem nicht nur eine fast abgebrannte Kerze steckt, sondern der regelrecht gefüllt ist mit Katzenhaaren. Nun – ich habe gar keine Katze und auch nicht eine, die auf meinem Balkon wohnt. Und da der Balkon nicht Parterre ist, kann ich mir schwer vorstellen, woher die ganzen Büschel Katzenhaare sind. Ich merke, dass ganze Geschichten so quasi hinter meinem Rücken passieren. Es ist zwar mein Balkon, mein Kerzenbecher und mein Zuhause. Aber die Geschichte passierte ohne meine Anwesenheit und ohne mich gefragt zu haben, ob sie stattfinden darf, und ohne mir dann Bericht zu erstatten.
Das Einzige, was die Geschichte dann tat, mir so dreist-nachlässig ein paar Büschel Haare hinzuwerfen, als Abschluss. Und ich muss mir jetzt daraus eine passende Geschichte ausdenken! Denn wenn nicht, dann wird es mich die nächsten paar Tage, Wochen in meinem Unter- und Überbewusstsein beschäftigen. Ich weiss, dass ab jetzt meine Gedanken immer wieder zu dieser Kerze wandern, wie die Zunge an den kranken Zahn. Also her mit der Geschichte.
Ich starre dann und entdecke an einem Haar sogar eine Wurzel, was heisst, dass das Haar tatsächlich frisch vom Tier kam und nicht etwa von einem bereits verarbeiteten Kragen oder so. Trotzdem durchforste ich meine Besucher und deren Mantelkrägen und Schals und andere Fellteile. Fehlalarm. Keiner meiner Freundinnen und Freunde hat so was. Aber wie um Himmels willen gelangt dann ein Häufchen Haar ausgerechnet in den Becher? Schüttelt sich die Katze, dann wären die Haare verteilt. Wäre sie am Becherrand hängen geblieben, dann würden die Büschel nicht im Inneren auf der Kerze liegen. Hätte ich eine Katze auf meinem Schoss gebürstet und die Haare aus der Bürste auf der Kerze deponiert, müsste ich das doch noch wissen. An irgendwas müsste ich mich spätestens jetzt, während ich nun schon gefühlt 20 Minuten starre und überlege, erinnern.
Und die logischste aller Geschichten möchte ich gar nicht erst anfangen zu denken: Ein fremder Jemand hat eine fremde Katze auf meinem Balkon gebürstet, um die Haar in meinem Kerzenbecher zu entsorgen. Irgendwann muss ich, glaub, einfach akzeptieren, dass gewisse Dinge keine Auflösung haben: Wie Socken, die als Paar existieren und dann als Single enden. Und keiner weiss, wohin sie entschwinden. Sie trennen sich halt einfach oder haben sich scheiden lassen und gehen separate Wege.
Die Erklärung, dass Waschmaschinen Socken fressen, geht nicht, denn sie müsste ja immer nur die eine vom Paar essen. Wobei, es würde niemandem wirklich auffallen, wenn beide weg wären. Und dann die Geschichte mit den violetten Konfetti, Pardon, Räppli. Angefangen hat es in meiner Wohnung – mitten im Sommer drei violette Räppli am Boden. Ja, bis dahin habe auch ich logische Erklärungen. Aber dann, mit neuem Rollkoffer und Sommersonnen-Flipflop-Fummel im fernen Ausland im Appartement auf dem Marmorboden: 1 violettes Räppli.
Wieder zu Hause Rechnungen aus dem Computer ausgedruckt. Die frisch gedruckten Seiten an den Tisch genommen und eine nach der anderen bezahlt und auf die Seite der bezahlten Rechnungen gelegt. Zwischen der zweiten und dritten, frisch aus dem Drucker gezogenen Rechnung: 1 violettes Räppli. Und dann eines Tages: ein kleines Mädchen ruft und will mir unbedingt was zeigen: 1 violettes Räppli. Und schenkt es mir dann auch. Als Italienerin kenne ich den Spruch: «Se non è vero, è ben trovato.» Bevor ich an Ungelöstem hängen bleibe, rede ich mir ein, dass ich nur fabuliere. Dass es «ben trovato» ist. Oder einer der Leserinnen und Leser liefert mir bald plausible Auflösungen der Katzenhaar- und Räppli-Geschichte.