Ich habe eine Sekunde zu lange hingeschaut. Und das hatte zur Folge, dass es mich nun verlangte, noch länger hinzuschauen.
Aber mal ganz von Anfang: Auf dem Laufband der Kasse schaue ich mir die vorderste Auslage an: zwei grosse Partyboxen Kleiner Feigling lagen da und dahinter zwei ausgelassene Jungs. Plaudernd und scherzend. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, wie sie mit den Boxen feierten und den vielen kleinen bunten Fläschchen. Ich stellte sie mir vor, wie sie beladen mit den Boxen in irgendeiner Küche landeten, scherzend und lachend. Sie schrien einander Witze ins Ohr, die laute Musik zu übertönen versuchend …
Weiter kam ich nicht. Hier wurde es still. Hier endete abrupt meine Vorstellung der Party. Denn da war kein Essen auf dem Laufband. Keine Tiefkühlpizzas im Multipack, keine Spaghetti oder Partyfilets im Teig. Nicht mal Chips! Jungs, tut mir leid, so geht das nicht! Ich kann mir eure Party leider nicht imaginieren – so ohne Essen. Ich schaute die Jungs an, entschuldigte mich innerlich und dachte: «Ich wünsche euch trotzdem eine schöne Feier.»
Und jetzt kommt das Unheil. Hätten die Jungs ans Essen gedacht und in dieser Richtung was auf dem Band gehabt, wäre das Folgende nicht passiert. Weil es eben da nichts zu imaginieren gab, schaute ich mir die Auslage meiner vor mir platzierten Leute an: eine Selleriestange, irgendeine Sprossenart im Plastikschälchen und ein …
Ich schaute die dazugehörenden Menschen an: ein sympathisches Paar, welches freundlich miteinander plauderte. «Und ein was?!!!», sagte mein Hirn, «Schau nochmals hin! Du hast da was entdeckt, das du nicht zu Ende identifiziert hast!!!!» Also schaute ich nochmals. Ich musste leider lange draufstarren, bis es einen Sinn ergab. In einer mit Plastikfolie überzogenen Schale lagen zwei beige Teile. Die Form, die zarten Äderchen und die Grösse ergaben den Schluss, dass es sich hier um Schweinsohren handelt.
Mist, warum habe ich nicht die Zigarettenauslage studiert. So muss es einem eingefleischten, pardon, einem echten Veganer oder Vegetarier gehen wie mir jetzt. Die Absurdität unseres Fleischkonsums wurde in Form dieser zwei Ohren bewusst. Der Anblick irgendwelcher Pouletschenkel oder von Geschnetzeltem sind wir so gewohnt, dass ein Nachdenken nicht mehr passiert. Das wird automatisch abgespalten. Einem Bekannten von mir wurde diese Absurdität so bewusst, dass er zum Vegetarier wurde. Er kam auch beim Pouletschenkel zum Nachdenken, verstehen Sie? Und er wollte es auch seinen Eltern beibringen, seinen Gesinnungswandel.
«Ich muss euch etwas sagen», begann er ernst das Gespräch. «Lässt du dich scheiden?», die aufgeregte Erwiderung seiner Mutter. Auf sein Nein reagierte sie kaum und meinte: «Hast du eine Freundin? Kommt in den besten Familien vor. Kann man einfach nichts machen», plauderte sie drauflos. Obwohl er verneinte, beruhigte sie ihn, indem sie verständnisvoll ausführte, warum das ihm eben passieren kann. Das mit der Freundin. Als sein Nein stärker wurde, meinte sie: «Ah, du bist schwul!» «Nein, Mama!» «Ach, da musst du dich nicht schämen, das passiert vielen. Die merken das ganz lange nicht. Erst ab vierzig dann.» Und sie führte ihrem Sohn des Langen und Breiten aus, warum er bis jetzt nichts bemerkt hat.
Das Entsetzen auf jeden Fall war immens, als er sich als Vegetarier outete, und gipfelte in der Bemerkung, dass sie nie und nimmer dieses vegane Zeugs auf ihrem Herd kochen würde. Als er seiner Frau zu Hause das Coming-out bei seinen Eltern nacherzählte, meinte sie schneidend: «Was???!!!! Die können sich vorstellen, dass du dich von mir scheiden lässt? Eine Freundin hast!!!???» Und er schrie zurück: «Das ist doch nicht der Punkt! Die können sich vorstellen, dass ich schwul bin!!!»
Die Liste des Grauens kann lange sein. Dass Vegetarismus oder Veganismus dazugehört, wusste ich nicht.