Ich habe eine «Du glaubst es nicht, aber ich wollte dich soeben auch grad anrufen!»-Freundin. Und die Anrufe kommen aber immer von mir. Immer. Also meistens immer. Auf meine Frage, ob es sie in den letzten drei Wochen, ohne dass ich eine Silbe von ihr gehört habe, verschluckt hat, antwortet sie gelassen: «Ja! Das wollte ich auch grad fragen. Grad just, soeben wollt ich das. Per SMS.»
Manchmal melde ich mich Tage und Wochen nicht, damit ich eben ihre «Du glaubst es nicht, dich wollte ich»-Anrufe in Empfang nehmen kann. Oder ihre SMS, die sie ja immer grad in dem Moment schreibt, wenn ich meines schon abgeschickt habe. Manchmal tue ich nur so, als ob ich sie anrufen würde. Murphy’s Law austricksen: Ich nehme mein Handy, suche ihre Nummer im Adressbuch, aber dann warte ich. Nix. Sie kommen nie. Die Anrufe oder SMS.
Es ist mystisch. Denn sobald ich sie dann nach Wochen Funkstille wirklich anrufe, dann ist es wie ein Wunder genau dann, wenn sie auch grad wollte. Das grenzt doch an Übernatürliches. Und irgendwie komme ich ihrem Wollen immer zuvor. Und wir reden von Sekunden! Was sage ich, von Hundertstelsekunden! Auch wenn ich noch so lange warte. Immer bin ich diejenige: die Erste.
Dabei will ich auch mal die Wartende sein, die Empfangende von uns beiden. An so einem Tag, an dem sie mich fast angerufen hätte, sass ich hoch oben auf dem Margarethenhügel in der kleinen Kirche neben dem Altar. Pfarrer Lorenz sprach zur Trauergemeinde, und da und dort wurde ein Taschentuch an die Augen gedrückt. Das Porträt des Verstorbenen schaute lächelnd in die Runde.
Zur Unterstützung der Trauerrede und der Gedanken der Hinterbliebenen sang ich, und die Klänge wurden hoch über ihre Köpfe hinausgetragen. Klänge so flüchtig wie Gedankenfetzen. Und da spürte ich es wieder: Grosse Freude und grosse Trauer sind einander so nahe. Vielleicht ist die Intensität das Ausschlaggebende, vielleicht ist es aber im Kern einfach dasselbe.
Und da sagte der Pfarrer: «Heute ist der erste Tag vom Rest eures Lebens!» Wir versuchen ständig irgendwo hineinzupassen mit anstrengendem Anpassen: den Kopf voller To-dos, die reine Pflichterfüllung sind. Die getan werden müssen, weil es sonst niemand tut, und weil sonst die anderen schlecht von uns denken könnten, und weil sonst die Kirche nicht mehr im Dorf ist. Und weil! Und wo bleiben wir? Wo bleiben unsere kleinen Freuden, die grossen Leidenschaften und unsere süssen Träume? Wo bleiben die Dinge, die man schon so lange auf der Wunschliste hat, dass man sich kaum mehr daran erinnert, wenn man mal Zeit hätte.
Wir schieben unsere Träume vor uns hin und tun so, als hätten wir ein zweites Leben im Köcher. Und dann! Ja dann! Ich schaue in die Gesichter der Trauernden und merke, dass der erste Tag vom Rest des Lebens sie unruhig macht. Wir vergessen, dass wir endlich sind, und merken es erst, wenn wir einen nahen Menschen verloren haben. Dann wachen wir kurz auf, wie aus einer Hypnose, und denken: «Mensch! Ja! Ich habe keine Garantie für ein langes Leben nach der Pensionierung! Keine Sicherheit, dass es mich morgen noch gibt. Sonst sässe ich nicht hier und würde einen lieben Freund verabschieden müssen.» Und plötzlich scheinen alle Sorgen unter den Wolken verborgen. Plötzlich geht es um Wesentliches.
Ich singe, und danach ist Stille